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Aufstellungsarbeit unter tiefenpsychologischen Gesichtspunkten

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Ein aktuelles Beispiel ist das boomende sog. „Familienstellen nach Hellinger“. Aufgestellt wird heutzutage alles, was sich nicht wehrt, von jedem, der sich dazu berufen fühlt. Nicht zuletzt durch diese Inflationierung sind die vielen hilfreichen und positiven Aspekte ebenfalls in Misskredit geraten.

Im Folgenden werden wir diese positiven Aspekte, welche wir durch jahrelange Praxis erlebt haben, herausarbeiten. Das wesentliche Ziel unserer Arbeit ist die Entwicklung der autonomen Ich-Funktionen durch die Aufdeckung unbewusster Konflikte. Durch das Einbeziehen des systemischen Ansatzes entwickeln wir, neben der plastischen Darstellung der Konflikte (Verwicklungen), Lösungsmöglichkeiten, ohne Ratschläge zu geben.Die Entwicklung des Individuums durch die Auflösung seiner innerseelischen und interpersonellen Verwicklungen steht dabei ganz im Vordergrund. Die Pathologie wird dadurch sekundär und spielt für die eigentliche Aufstellungsarbeit eine untergeordnete Rolle, die Lösungsmöglichkeiten haben Priorität. Das Bewusstwerden der Psychodynamik ist Voraussetzung für den lösungsorientierten Prozess, der zur Befreiung des Klienten aus seinen, Leid erzeugenden, Verstrickungen führen soll. Wir gehen also davon aus, dass der bloße Bewusstwerdungsprozess bis dahin verdrängter Erlebnisse und Affekte nicht ausreicht, um eine Veränderung des Verhaltens herbeizuführen bzw. eine Heilung zu ermöglichen. Besonders wesentlich ist bei diesem Prozess der beständige Hinweis auf die Ressourcen des Klienten, die es ihm ermöglichen, seine Defizite zu betrachten, ohne daran zu verzweifeln. Somit entscheiden die Ressourcen über die Prognose, nicht die Traumata und Defizite.

Im Rahmen der Aufstellungssituation wird die Lösung assimiliert und es erfolgt ein „Probehandeln“. Dabei kann der Klient überprüfen, wie entschieden er ist, alte Gewohnheiten und Verhaltensweisen aufzugeben. Gleichzeitig kann er die inneren, unbewussten Widerstände gegen diese Lösungsmöglichkeit erleben. Vor allem Themen wie die erlernte Hilflosigkeit, Scheiterungsfixierung, Identifikation mit dem Elend der Eltern, bindende Emotionen (Trotz, Trauer, Hass, Sehnsucht, Mitleid, Angst, Schmerz, Scham, Schuld etc.) werden berührt und häufig erstmals als wesentlich erkennbar.

Üblicher Weise wird die Herkunftsfamilie, mit einem Zeitraum bis zum Erwachsenenalter, oder die eigene Familie des Erwachsenen aufgestellt. Es können aber auch alle anderen menschlichen bzw. sozialen Systeme aufgestellt werden. Jede Aufstellung bezieht sich lediglich auf einen Ausschnitt des Gesamtkontextes des Klienten. Außer Personen können auch Begriffe, Gefühle, Organe, etc. aufgestellt werden. Dies nennt man „Strukturaufstellungen“. Werden berufliche Kontexte und Institutionen aufgestellt, werden sie Organisationsaufstellungen genannt. Wird ein Stellvertreter aufgestellt, ohne dass benannt wird, um wen oder was es sich handelt, bezeichnet man dies als „verdeckte Aufstellung“.

Psychodynamische Aspekte


Externalisierung der Konflikte

In der Aufstellungsarbeit werden durch die Auswahl und räumliche Platzierung von Stellvertretern intrapsychische und interpersonelle Konflikte und Zusammenhänge dargestellt. Durch diese Externalisierung wird eine Distanz zu diesen inneren Prozessen ermöglicht, wodurch es zu einer bewussten, direkt erlebbaren Konfrontation mit der Psychodynamik und deren Ursachen kommt.

Abwehr
Durch die Beobachterposition des Aufstellenden werden ihm seine eigenen Abwehrphänomene transparent, ohne dass er sich zunächst im Mittelpunkt des Geschehens befindet (therapeutische Ich-Spaltung). Diese größere Distanz ermöglicht es dem Therapeuten, dem Klienten behutsam, entlang der Abwehr, seine Konfliktdynamik bewusst zu machen. Die Konfrontation mit unbewussten und ungelebten Anteilen erfolgt also schrittweise und unter Umständen in mehreren Aufstellungen, wobei pro Seminar nur eine Aufstellung möglich ist.

Erlebnisorientiertes Vorgehen
Die moderate emotionale Beteiligung verringert die Gefahr der Rationalisierung und Intellektualisierung. Gleichzeitig ist, wie aus der Lerntheorie bekannt, ein Mindestmaß an Emotionalisierung (arousal) notwendig, um nachhaltige Lernprozesse zu initiieren und neue neuronale Bahnungen zu ermöglichen. Durch die liebevolle, wohlwollende Gruppenatmosphäre (holding) werden übermäßig starke Affekte verhindert. Der Therapeut muss steuernd auf die emotionale Situation der Gruppe und des Einzelnen einwirken um eine Dramatisierung und Eskalation zu verhindern. Häufig besteht eine Dramatisierungstendenz Einzelner, mit welcher der Leiter annehmend und gleichzeitig de-eskalierend umgehen muss (Ich-Präsenz). Die Beschreibung der intrapsychischen Konflikte in der operationalisierten psychodynamischen Diagnostik (OPD) eignet sich zur Darstellung der in der Aufstellungsarbeit erkennbar werdenden Konfliktzusammenhänge.

Autonomie-Abhängigkeitskonflikt
Die Ambivalenz zwischen Abhängigkeiten ( von Personen, Überzeugungen, Substanzen etc.) und dem tiefen Bedürfnis nach einem selbst bestimmten Leben imponiert regelmäßig als Kernthema der Klienten. Im Gegensatz zur klassisch psychoanalytischen Theorie beschränkt sich dieser Konflikt aus unserer Erfahrung nicht auf Individuen mit einer pathologischen Entwicklung in der oralen Phase, sondern erscheint eher als allgemein menschliches Thema mit unterschiedlicher Auswirkung im Alltagsleben. Die innerfamiliären Bindungen und die tradierten Glaubenssätze sind entscheidend für die Verhaltensmuster und die gesamte Lebens- und Beziehungsgestaltung. Ziel ist es, die Ambivalenz durch die Förderung der Entscheidungsfähigkeit auf ein gesundes Maß zu reduzieren. Meist sind dem Betroffenen weder seine Zwiespältigkeit noch seine realen Möglichkeiten und am allerwenigsten sein Widerstand gegen die ersehnte, gute Lösung bewusst. Für viele Menschen ist die Erkenntnis dieser Zusammenhänge zwar schmerzhaft, andererseits aber begeisternd, weil sie endlich einen realen Ausweg aus ihrer bis dahin gefühlten Ausweglosigkeit sehen.

Autarkie-Versorgung
Während die Bearbeitung des Autonomie- Abhängigkeitskonflikt vorwiegend die Ursprungsfamilie betrifft, werden die Auswirkungen des Autarkie-Versorgungskonfliktes vor allem in der aktuellen Beziehungssituation (Gegenwartsfamilie, Arbeitsplatz, soziale Kontakte etc.) deutlich. Die Beziehungssituation wird bestimmt von der Frage nach der emotionalen und auch ökonomischen Selbstständigkeit. Nimmt der Betreffende eine Helfer bzw. Opferposition ein, wird er unbewusst von seiner Hilflosigkeit dominiert oder verstärkt er die Abhängigkeit anderer. Ziel ist, nach der Bewusstwerdung der Zusammenhänge, konkrete Lösungsstrategien für die unbefriedigenden Beziehungsstrukturen zu entwickeln.

Schuldkonflikt
Dieser Konflikt drückt sich in der möglichst weitgehenden Erfüllung der elterlichen Dogmen und Einstellungen aus. Das rigide Über-Ich verhindert die freie Entscheidung und löst bei zuwider handeln Schuldgefühle aus. Häufig dreht es sich um das Versprechen, die Familie nicht zu verlassen (Blut ist dicker als Wasser) oder mindestens für die Eltern im Alter da zu sein. Die Tragweite dieses Versprechens ist meist unbewusst. Durch die Aufstellung wird die Notwendigkeit, sich aus den rigiden Familienbanden zu befreien deutlich, auch wenn ein „schlechtes Gewissen“ die Folge ist

Selbstwertkonflikt
In der Regel wird das subjektive Gefühl der Minderwertigkeit im Allgemeinen beschrieben. Dahinter verbergen sich meist elterliche Botschaften der narzisstischen Übersteigerung („du bist der Beste“), oder der Abwertung („du bist das Letzte“). Gleichzeitig besteht ein gesundes Bedürfnis nach Selbstliebe und Angenommensein, unabhängig von der eigenen Leistung oder dem äußeren Status. Diese Problematik berührt auch eine spirituelle Dimension, weil es um den Wert des Menschen an sich geht. Erleichternd wirkt die religiöse Aussage, dass jeder Mensch, unabhängig von seiner Leistungsfähigkeit und seinem Erfolg wertvoll ist.

Ödipaler Konflikt
Bei der Aufstellung der Herkunftsfamilie werden ebenfalls nicht gelöste ödipale Kernkonflikte deutlich. Eine zu enge Bindung an die Mutter oder den Vater und die daraus resultierende Verwicklung mit dem anderen Elternteil ( z.B. Verbündung des „Muttersohnes“ gegen den Vater, Eifersucht der Tochter gegenüber der Mutter) werden in der Aufstellung erlebbar. Die mögliche Wiederholung in der jetzigen Partnerschaft kann deutlich werden. Daraus resultiert dann die Frage nach der Loslösung vom zu sehr geliebten Elternteil und den aktuellen Konsequenzen für die Ursprungsfamilie und die Partnerschaft.

Voraussetzungen für das Gelingen der Aufstellung

Eine besonders wichtige Voraussetzung ist die sog. „Allparteilichkeit“ des leitenden Therapeuten. Er ergreift gegen niemanden Partei und achtet jeden in seiner Individualität, auch wenn er sich schuldig gemacht hat.
Der Therapeut ist schützender Prozessbegleiter, der die anderen Beteiligten intensiv in das Geschehen mit einbezieht. Er nutzt die Aussagen der Stellvertreter und achtet auf ihre Körpersprache. Er lässt sich vom Prozess inspirieren und vermeidet möglichst, seine eigenen Vorerfahrungen oder Vorurteile einzubringen. Das Anliegen des Aufstellenden sollte möglichst klar und eindeutig formuliert werden. Es wird geklärt, ob es sich um eine Frage oder um einen voran geschrittenen Endscheidungsprozess handelt. Auch die Frage nach Klärung der Situation ist ein adäquates Anliegen für eine Aufstellung. Geht es um eine Entscheidung, bekommt die Aufstellung einen rituellen Charakter, wie z.B. ein Versprechen, ein Abschied oder eine Versöhnung.

In jedem Falle liegt es allein in der freien Entscheidung des Aufstellenden, in welcher Weise er sich mit welchen Möglichkeiten verbindet und was er daraus macht. Niemals wird er gezwungen oder genötigt. Es wird immer wieder auf die Notwendigkeit der Überprüfung an der Realität hingewiesen. Vor allem, wenn bisher nicht bekannte Zusammenhänge und Ereignisse deutlich werden.

Die Aufstellung kann keine Aussagen über zukünftige Ereignisse machen. Häufig wollen Klienten die Verantwortung für die eigenen Entscheidungen abgeben und die Aufstellung als Orakel benutzen. Dies ist eine große Gefahr, vor allem, weil es den gesamten Prozess mystifiziert und das unterschwellige magische Denken aktiviert. Gerade dieses magische Denken hat die Aufstellungsarbeit in Misskredit gebracht und gleichzeitig bei vielen Klienten überzogene Erwartungen genährt. Es ist eine wesentliche Aufgabe des Leiters, dieser Entwicklung entgegen zu wirken.

Die Aufstellungsarbeit ist sehr erlebnisorientiert und deshalb kann leicht die Affektivität der Beteiligten über ein konstruktives Maß hinaus ansteigen lassen und zu Effekten wie Retraumatisierung, histrionischen Auftritten und Aktivierung der Abwehrfunktionen führen. Durch entsprechende Interventionen sollte deshalb der Leiter die zu starke Emotionalisierung verhindern, ohne sie zu blockieren. Zu häufiges Aufstellen mag zu einer Inflationierung führen, wodurch die Wirksamkeit nachlässt und eine Abhängigkeit entstehen kann. Andererseits kann eine regelmäßige Teilnahme und eine gewisse Kontinuität des Prozesses die Persönlichkeitsentwicklung fördern; durch Beobachtung und das Miterleben ähnlicher Problematik können die Teilnehmer bei den Aufstellungen von anderen „Trittbrett fahren“. Hier ist es ist wichtig, von Fall zu Fall zu entscheiden und Verallgemeinerungen zu vermeiden. Grundsätzlich gibt es keine allgemeingültige Regel, welche die Häufigkeit und Frequenz der eigenen Aufstellungen festlegt.

Dr. Alfred Schwarz, Sandra Zock